Streit unter Geschwistern- müssen meine Kinder alles teilen? Teil 4
An manchen Tagen sitzen wir beim Nachmittagssnack und meine große Tochter teilt mit ihrer Schwester und mir einen Joghurtbecher. Es gibt kein Gemecker, kein "du hast aber mehr" oder argwöhnische Blicke. An anderen Tagen reißen sich die Mädchen alles aus den Händen und keiner gönnt der anderen ein Spielzeug.
Wie ist das mit dem Teilen? Ein Thema, was mich schon sehr lange beschäftigt. Unter Geschwistern ist das Teilen von Spielsachen besonders in den ersten Lebensjahren ein Dauerbrenner.
Warum ist das so?
Der Kinderarzt Remo H. Lago beschreibt dieses Phänomen mit der Emphathiefähigkeit (Theory of Mind). Das ist die Fähigkeit sich in Mitmenschen hineinzuversetzen, eine Fähigkeit über die nur der Mensch verfügt.
In den ersten drei Lebensjahren sind die Kinder in hohem Maße Ich- bezogen. Das heißt, ihre Gefühle, Bedürfnisse und auch das Denken stehen an erster Stelle. Es ist für sie noch nicht nachvollziehbar, dass Mitmenschen auch Bedürfnisse haben. Erst im dritten Lebensjahr beginnen Kinder sich in andere Menschen hineinzufühlen. Das ist jedoch ein Prozess, der einige Zeit andauert. Mit der zunehmenden Sprachentwicklung im vierten Lebensjahr lernen sie ihre Gefühle zu beschreiben und auszudrücken. Auch das ist hilfreich, um die Emotionen anderer Menschen wahrzunehmen. Doch bis ein Kind voll Emphathiefähig ist, vergehen einige Jahre. Somit ist es für Kleinkinder noch nicht so einfach zu erkennen, dass auch das Geschwisterchen ein Bedürfnis nach dem gleichen Spielzeug hat, wie es selbst. Auch das Teilen ist daher ein Akt, der eher aus dem Bedürfnis resultiert, den Erwartungen der Eltern gerecht zu werden.

Ist es sinnvoll Geschwisterkinder dazu zu zwingen oder sie zu überreden, ihre Sachen zu teilen?
Wenn Kinder ins Spiel vertieft sind und plötzlich das Geschwisterchen genau das Gleiche braucht, wird das andere Kind aus dem Spiel gerissen und versteht nicht, warum es nun das Spielzeug abgeben muss. Das führt zu einem Gefühl der Ruhelosigkeit.
Wenn bspw. die Regel gilt, jeder darf 5 Min. mit dem Spielzeug spielen, kommen unsere Kinder in kein vertieftes Spiel. Immer herrscht die Angst, dass schon jemand auf das Spielzeug wartet.
Da Kinder noch kein Zeitgefühl haben sondern in der unmittelbaren Gegenwart leben, werden sie neben dem spielenden Kind auf und nieder laufen und warten und nörgeln, bis die Eltern das Signal zum Tausch geben. Das wird ganz automatisch zu einem Dauerkonfliktpotenzial führen und zu keinem selbstbestimmten Spiel.

Getauscht wird spätestend am nächsten Tag
Es ist daher sinnvoll die Regel zu ändern. Gibt es Spielsachen, die sehr beliebt sind, braucht es klare Regeln, wer wann und wie lange spielen darf.
Als Eltern haben wir das Ziel, dass Kinder sich in ein Spiel vertiefen können. Dazu muss der Druck herausgenommen werden, dass ein Spielzeug sofort an das Geschwisterchen abgegeben werden muss, wenn dieses auch das Bedürfnis danach verspürt.
In diesen Situationen kann man gemeinsam mit dem Kind nach einem ähnlichen Spielzeug suchen, sodass vielleicht sogar ein gemeinsames Spiel stattfinden kann. Nicht immer gibt es das jedoch und das Augenmerk ist genau auf die Sache des Geschwisterchens gerichtet, das selbst Ablenkung schwer Abhilfe schafft.
Die Autorin von: "Geschwister als Team" Nicola Schmidt empfiehlt, das man das fordernde Kind ermuntern sollte, das Geschwisterchen danach zu fragen, wann es mit dem Spielzeug spielen darf.
Da Kinder bis zum Vorschulalter noch kein Zeitgefühl haben, kann je nach Alter der Kinder die Antwort jedoch auch sehr unpräzise ausfallen. (z.B. "im nächsten Jahr", "an Weihnachten",...) Dennoch wird für das fordernde Kind klar, dass es zum Ausdruck gebracht hat, dass es auch gerne mit dem Spielzeug spielen möchte und als nächstes an der Reihe ist.
Wir als Eltern helfen dem Kind dann zu warten, bis es dran ist oder suchen gemeinsam ein anderes Spielzeug oder eine Ersatzbeschäftigung.
Das entspannt für alle Kinder die Situation, denn jeder weiß, dass er das Spielzeug so lange haben kann, bis er sich einer anderen Sache widmet oder bis er es nicht mehr benötigt.
Natürlich ist es sinnvoll festzulegen, dass z.B. das Kind, welches das Spielmaterial zuerst genommen hat maximal bis zum Abendessen damit spielen kann und am nächsten Tag ein Tausch erfolgt. So wird klar, dass jeder das Recht hat mit dem Spielzeug zu spielen, aber auch die Zeit bekommt, die er braucht um sich hingebungsvoll seinem Spiel zu widmen.

Müssen Herzensdinge geteilt werden?
Bei vielen Kindern gibt es Lieblingsspielsachen. Bei meiner großen Tochter ist es der Teddy. Den liebt sie seit sie ihn bewusst wahrnehmen kann. Sobald ihr Schwesterchen dieses Kuscheltier in die Hände bekommt, schreit sie wie am Spieß. Sie ist wie mit dem Bärchen verbunden und kein anderer darf sich in dessen Nähe begeben. Wir haben für unsere kleine Tochter auch einen Teddybären besorgt, sodass das Konfliktpotenzial etwas gemindert wird.
Stellen wir uns als Erwachsene einmal vor, es kommt jemand und möchte unser Smartphone oder Portmonee auch gerne einmal benutzen. Das würde bei uns Gefühle von einer Bandbreite des Entsetzens bis hin der Wut und Entrüstung auslösen. Schließlich gehören diese Dinge uns und beinhalten sehr private Angelegenheit. Wir sind nicht bereit alles mit allen zu teilen. Und das ist auch in Ordnung so.
Das zeigt aber auch, dass es unseren Kindern mit ihren Lieblingsdingen genau so geht. Es ist daher nicht richtig sie zu zwingen, ihre Herzensdinge mit anderen teilen zu müssen.

An solchen Stellen, bietet es sich an, dem Geschwisterkind ein ähnliches Kuscheltier oder Spielzeug zu schenken. Das hilft auch unserer großen Tochter, denn sie kann der kleinen Schwester den zweiten Teddybären im Tausch zu ihrem geben. Dadurch enden diese Konflikte wesentlich seltener mit Tränen.
Natürlich kann man nicht jedes Spielzeug doppelt anschaffen. Das ist auch gar nicht notwendig. In der Regel ist das geforderte Spielzeug nur interessant, so lange der andere gerade damit spielt. Hier hilft, dass man mit dem Kind etwas ähnliches sucht oder es auf eine andere Sache aufmerksam macht. Manchmal kann man das Kind auch aus der Situation herausholen, in dem man es für eine gemeinsame Mama-Kind oder Papa-Kind-Sache begeistert. Meist entspannt sich die Lage dann und jeder findet wieder in ein eigenes Spiel.
Mit zunehmenden Alter werden diese Streitigkeiten um das gleiche Spielzeug sich in andere Bereiche verlagern oder auch ganz alleine geklärt und das gemeinsame Spiel wird immer mehr in den Vordergrund rücken.
Durch Streit entsteht Nähe...
Wenn man von Streit unter Geschwistern spricht, denken wir recht schnell an die negativen Seiten. Natürlich, denn sie sind das Offensichtliche, das Nervtötende und auch das Verletzende.
Dennoch ist jeder Streit, egal um welches Detail es geht, ein wichtiges Puzzleteil in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.
Durch Auseinandersetzung entsteht Nähe. Man lernt sich und sein Gegenüber intensiver kennen.
Vor kurzen habe ich ein Kapitel im Buch: "Die Hedwig Formel" der norwegischen Psychologin Hedwig Montgomery zu Streitigkeiten unter Geschwistern gelesen.
Sie beschreibt, dass Geschwister, die als Kinder sehr intensiv streiten, als Erwachsene sehr vertraut miteinander sind. Sie kennen sich und ihre Eigenheiten einfach sehr gut. Tatsächlich bin auch ich mit mehreren Geschwistern aufgewachsen. Ich kann mich an viele Situationen erinnern, die wir durchgefochten haben und dennoch stehen wir heute alle beieinander und würden für den anderen durchs Feuer gehen.
Und was kann schöner sein, als Menschen an seiner Seite zu wissen, die einen so gut kennen, wie sonst keiner?
Quellen und weiterführende Literatur:
Remo H. Lago: Babyjahre, Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren, Piper Verlag, 18. Auflage, 2016, S. 125ff
Hedwig Montgomery: Die Hedwig Formel für glückliche Kleinkinder, Rowohlt Polaris Verlag, 2019, S.205f
Natalie Klüver: Willkommen Geschwisterchen, Trias Verlag, 2017
Nicola Schmidt: Geschwister als Team, 3. Auflage, Kösel Verlage, 2018
Sabrina Heinke, Ziemlich beste Geschwister, Humbold Verlag, 2020
Christiane Kutik: Erziehen mit Gelassenheit, 6. Auflage, Freies Geistesleben, 2018